Weiterbauen als Chance für den Ort und den Bestand

Einen Schritt zurückgehen und etwas früher beginnen: Den Bestand weiter entwickeln heißt, Verantwortung für die nächsten Jahrzehnte zu übernehmen. Die eigentliche Aufgabenstellung besteht daher in der vielschichtigen Entdeckung der Potenziale des Vorhandenen, im Herausarbeiten der latenten Ressourcen des Ortes und seiner Bausteine. Anstatt das Mittelmaß einer ressourcenschonenden Weiterentwicklung zu verfolgen, propagieren wir Weiterentwicklung als Coup der Ressourcen – als substanzielle Erneuerung des Ortes, die auf der Entdeckung, Freilegung und Ernte vorhandener Ressourcen beruht.

Der Coup der Ressourcen folgt dem Prinzip der Akupunktur. Die präzise Setzung von punktuellen Interventionen führt zu großen, synergetischen Wirkungen, die unterschiedliche Maßstabsebenen adressieren:

1. WEGNEHMEN = PLATZ MACHEN
Mit dem Wegnehmen eines einzigen Bestandshauses, das Platz für den öffentlichen Raum macht, kann die gesamte Entreesituation im Norden souverän gelöst werden.

2. MEHR WOHNEN OHNE AUFSTOCKEN
Der Flächenzuwachs für das Wohnen (+33%) wird zur Gänze vom Neubau aufgenommen. Der Bestand spielt seine Talente ohne neue Last auf seinen Schultern aus, frei von Prothesen oder Anhängseln (Aufzüge).

3. BARRIEREFREIHEIT OHNE AUFZUG
Neue Hauszugänge mit durchgesteckten Foyers schaffen barrierefreie Zugänge für jedes Haus, inkl. 25-33% barrierefreies Wohnen im EG, ganz ohne Aufzug.

4. ENTSIEGELN = ZUGÄNGLICHKEIT, KLIMARESILIENZ UND CHARAKTER HERSTELLEN
Das Wegschneiden des östlichen Sockels und das Entfernen der Parkpalette verwandeln die bestehende Engstelle und die versiegelte Rückseite im Osten in entsiegelte, stark durchgrünte Freiräume.

5. NEU BAUEN = IMPULSE FÜR STADTTEIL UND QUARTIER SETZEN
Die Erdgeschoße der drei Doppelpunkte beleben „rückseitenfrei“ den neuen Platz und die neue Quartiersmitte.

6. NEU BAUEN = MILIEUS GLIEDERN
Die Setzung der drei Doppelpunkte gliedert raumbildend die neuen Quartiersmilieus (Platz, Oase, Anger).

7. NEU BAUEN = VERTIKALE BRÜCKENSCHLÄGE ERMÖGLICHEN
Durch eine entsprechende Typenentwicklung und Programmierung werden bestandsbedingte Barrieren zu Potenzialen für die Nachbarschaft.

8. BESTAND ERNEUERN = ANDERS WOHNEN
Zurückhaltende, aber präzise Eingriffe in der Bestandsstruktur schaffen außergewöhnliche Wohnqualitäten. Zusammen mit dem Angebot des Neubaus entsteht eine große Bandbreite von Wohnmodellen.

9. BESTAND ERNEUERN = GESTALT REHABILITIEREN
Die bauphysikalische Erneuerung gewährt in ihrer Zurückhaltung der plastischen Figur des Bestands einen starken Auftritt.


Wegeband am Anger, Blick Richtung Norden zum Nachbarschaftshaus

NUTZUNGEN
Eine artikulierte Gliederung des Quartiers – Platz, Oase, Anger – unterstützt eine differenzierte Nutzungsentwicklung im EG, deren Öffentlichkeitsgrad Richtung Süden abnimmt.

Im Norden, am Platz, bieten die Neubauten Platz für das kommunale Quartiersmanagement mit dem Frei-Raum und einem daran anschließenden Café mit schöner Abendsonnenlage am Platz. Im östlichen Doppelpunkt befindet sich die Apotheke, das freigelegte EG an der nördlichen Stirnseite des Bestandsbaus Schlüsselbergerstraße 1 beherbergt einen automatisierten-Shop mit Backautomaten. In den Obergeschoßen bieten Arztpraxen ergänzende Angebote zum Gesundheitsschwerpunkt.
An der saftig durchgrünten Oase liegt das Tageszentrum. Den Übergang zwischen Oase und Platz bildet das Nachbarschaftshaus mit Kindergalerie und Quartiersküche, wo Co-Working und andere Aktivitäten (Betreuungsangebote, Feste, ...) stattfinden können. Der Jugendraum befindet sich nördlich am Pergolafeld, an dessen Westseite die freigelegten Keller als Hobbyräume und Flächen für Kleinstgewerbe aktiviert werden.

DAS NEUE KLEID:
Körperbetontes Slim Fit

Die bauphysikalische Sanierung der Außenhaut gibt der starken Plastizität der Bestandsbauten die ihr gebührende Souveränität, indem sie sich an die bestehende volumetrische Kontur möglichst eng anlegt.

Über dem reflektierenden Keramiksockel, der „glänzend“ an die Klinkerfassade erinnert, betont eine homogene Kalkputzoberfläche den plastischen Charakter der springenden und nunmehr „fugenbefreiten“ Fassadenflächen. Die Farbpalette wird beibehalten, jedoch werden Farbwechsel innerhalb der Einzelhäuser vermieden: jedes Haus erhält seine Farbe, deren Ton über unterschiedliche Oberflächen subtil differenziert wird. Das monochromatische Spiel zwischen Keramik und Putz wird durch den textilen Sonnenschutz, die „Pergoladächer“ an den Eingängen und die transluzente Lochblech-Textur der Fahrradboxen im EG ergänzt. Punktelle Akzente in diesem Spiel setzen die Materialfarben der Balkonbrüstungen und Fensterrahmen (sandgestrahlter Beton und Holz).

Ansichten Bestandssanierung Schlüsselbergerstraße 6-8-10 von Westen (unten) und 5-7-9 von Osten (oben)

AKUPUNKTUR:
VIELFÄLTIGES WACHSEN HINTER DEN KULISSEN

Kleine Eingriffe mit großer Wirkung verändern maßgeblich die Performance des Bestands.
Statt Quadratmeter mit Aufstockungen zu lukrieren, findet das Wachsen von Nutzflächen, Wohnvielfalt und Wohnmöglichkeiten hinter der Kulisse statt – diskret, aber substanziell. Ein „Werkzeugkasten der kleine Eingriffe“ aktiviert die latenten Potenziale der Bestandsstruktur und hilft maßgeblich beim Ressourcen-Sparen. So werden z.B. allein durch die Akupunktur des „durchgesteckten Haus-Entrees“ 25% bis 30% des Bestands barrierefrei, ohne einen Aufzug einbauen zu müssen.

WOHNKULTUR-MULTIPLIKATOR:
ERWEITERTES WOHNANGEBOT
Teamwork zwischen Bestand und Neubau

Die Bestands-Akupunktur fungiert als Multiplikator der Wohnkulturen:
der durchgesteckte Zentralraum-Typus ermöglicht variable Belegungsformen mit nutzungsoffenen Räumen statt kleinen Zimmern und eignet sich hervorragend für das Integrieren gemeinschaftsgeprägter Wohnmodelle (generationenübergreifendes Wohnen). Im Dialog mit dem Doppelpunkt-Typ des Neubaus, der kompaktes und zugleich mehrfachorientiertes, luftiges Wohnen bietet, entsteht ein breites Angebot an Wohnformen für unterschiedliche Bedürfnisse. Die Doppelpunkte eignen sich zudem gut für die Integration von Cluster-Wohn-Modellen.

Muster-Grundriss Bestand: variable Belegungsformen dank durchgestecktem Zentralraum

Blick Richtung Nordosten auf den neuen Babenberger Platz



Lage: Nachhaltiges Quartier Südwest, Bamberg, Deutschland Projektformat: geladener städtebaulicher Ideenwettbewerb mit hochbaulicher Vertiefung Projektstatus: abgeschlossen Grösse: 30.700 m2 BGF: > 28.400 m2 Planungszeitraum: 2023 –2023 Auftraggeber: Joseph-Stiftung, Bamberg Fachplanner/innen: Lindl+Bukor OG (atelier für landschaft); Ingenieurbüro P. Jung GmbH (Energiekonzept) Mitarbeiter/innen: Lukas Brotzge, Anna Billinger, Andrei Olaru, Marie-Therese Krejcik, Laleh Sadeghloo, Klaus Stattmann